Moderne Märchenerzähler/Innen

Was zeichnet moderne MärchenerzählerInnen aus? Menschen, die Geschichten über sich und ihr Leben erfinden, um sich für andere interessant zu machen. Aber was ist daran modern? Es gab sie doch schon immer, die AufschneiderInnen, die PrahlerInnen.

Nun, modern ist eben, dass man sie gehäuft im Internet findet. Überall begegnen sie einem. Auf stinknormalen Homepages, in Foren, in Chats, in Kommentaren auf Medienseiten, in Blogs und natürlich immer häufiger bei den sogenannten sozialen Netzwerken. Dort immer öfter, weil immer mehr Menschen sich diesem Trend unterwerfen und es mittlerweile als Must-have gilt, dort einen Account zu haben. Wer nicht dort ist, ist von vorgestern.

Nur: vorgestern fand man Märchen in Büchern. Und wenn die Mitmenschen Bären (-Märchen) aufbanden, dann konnte man die Bäckchen erröten sehen bis hin zu tomatenroten Gesichtern oder man konnte sich meistens anhand von Gestik und Mimik einen Reim auf den Wahrheitsgehalt des Erzählten machen.

Heute tummeln sich die aufgebundenen Bären also im immer wichtiger gewordenen Internet. Würde man diese vielen Bären wiegen wollen, es gäbe auf der ganzen Welt keine einzige Waage, auf die sie alle passen würden.

Da wird das morgendliche Brötchenholen beim Bäcker im Nachbarhaus zur Abenteuerreise durch die Sahara. Der Anpfiff vom Chef wird zur mutigen Verteidigung ungerecht behandelter Kollegen. Der morgendliche Kater ist grundsätzlich eine massive Kreislaufstörung. Im Suff geschriebenes wirres Zeug war die Katze, die unbemerkt während der Pinkelpause über die Tastatur getollt ist (noch besser um Mitleid bei seinen virtuellen Freunden zu erwecken ist es natürlich, man behauptet man stünde wegen einer schlimmen Krankheit unter starken Medikamenten).

Das Abholen des neuen Personalausweises ist ein wichtiger Geschäftstermin. Eine simple Kneipenschlägerei war doch in Wahrheit der nächtliche Überfall einer Räuberbande auf dem Weg vom noblen Chef-Einladungs-Abendessen nachhause. Der früher einmal in der Schreibstube abgeleistete Wehrdienst mutiert zum traumatischen Kriegseinsatz. Seit Jahren verzweifelt nach Arbeit Suchende sind gefragte Berater von Weltkonzernen.

Die beim Ein-/Ausparken im Weg stehende Straßenlaterne war ein unvermeidbarer Unfall auf blitzvereister Autobahn bei Tempo 180 und dem weitgehend unverletzten Überleben mit ganz viel Glück oder einem super guten Schutzengel. Und wenn man Gefahr läuft, sich in den Märchen allzusehr zu verirren und sich am Ende bei den virtuellen Freunden zu verraten dann nimmt man eine Auszeit, in der man entweder total beschäftigt, auf Geschäftsreise oder eben mal kurzfristig auf Weltreise ist.

Ab und zu oder auch regelmäßig miteinander zu telefonieren, schützt vor den Märchen nicht. Denn natürlich darf man nur nach vorheriger Absprache anrufen. Und tut man es intuitiv doch mal ohne Absprache, einfach weil einem gerade danach ist oder man meint aufgrund bestimmter (märchenmäßiger) Vorfälle seine unterstützende Anwesenheit damit demonstrieren möchte, passiert es überlicherweise, dass man ganz schnell abgewürgt wird - MärchenerzählerIn ist gerade im Aufbruch oder nicht in der Stimmung. Oder man hat erstaunlicherweise erst mal andere Personen an der Strippe - Ausreden dazu 3 Absätze weiter unten, schnelles Abwürgen inklusive. Und selbstverständlich später entweder ziemlicher Aufstand, dass man einfach so angerufen hat, ohne einen festen Termin abzusprechen, oder ein weiteres zu Tränen rührendes Märchen, warum man nicht in der Lage war, ein Gespräch zu führen. Bezeichnend für MärchenerzählerInnen ist ebenfalls, dass sie sich i.d.R. anrufen LASSEN und nie selbst die Initiative ergreifen.

Trifft man sich tatsächlich mal mit solchen virtuellen Bekanntschaften, ists natürlich ungleich schwieriger, die Märchen alle noch ordentlich zusammenzubekommen. Schliesslich hat man da keine Textdateien mit gespeicherten Unterhaltungen zur Hand, in denen man schnell mal nachschauen kann, wenns irgendwo hakt oder man sich verzettelt hat. Da braucht MärchenerzählerIn tatsächlich ein sehr gutes Gedächtnis.

Ausserdem wird bei einem solchen Treffen die alte Familienkutsche schon mal zum von Nachbarn ausgeliehenen Vehikel, weil das eigene kurzfristig in die Werkstatt musste. Man schämt sich schliesslich nach all der Prahlerei, weil man nicht den neuesten Luxusschlitten vorweisen kann. Oder man behauptet, man brauche ja normalerweise kein eigenes Auto sondern habe normalerweise freien Zugriff auf Firmenwagen - grade mal nicht möglich aus diversen Gründen - oder hasst eigentlich diese Rohstoffvergeudung und nutzt lieber öffentliche Verkehrsmittel.

Und mal ehrlich: bei so vielen zu Onkeln/Tanten, Cousins/Cousinen, Geschwistern, Kumpels oder Kumpelinen mutierten EhepartnerInnen und LebensgefährtInnen müsste die Bevölkerungszahl in unserem Land eigentlich viel höher sein als die offizielle Statistik sagt, oder?

Aber geglaubt werden diese ganzen abenteuerlichen Stories von den virtuellen Freunde und Bekannten. Und so fühlt sich MärchenerzählerIn richtig toll, geniesst er/sie schließlich viel Aufmerksamkeit und wird von allen Seiten hofiert und gebauchpinselt. Und je besser, schöner, gewählter, fehlerfreier und schlauer sich MärchenerzählerIn ausdrücken kann, deste eher werden die Geschichten geglaubt. Man staunt über die enormen Kenntnisse, die oft aus Internet- oder Buchrecherchen stammen. Und im Internet ist es auch ein Leichtes, Stadtpläne und Umgebungspläne aus aller Welt zu finden. Wo früher MärchenerzählerIn mit dem Finger auf die Landkarte musste, genügen heute einige Mouseklicks und vielleicht das eine oder andere Bildbearbeitungsprogramm.

Das größte Problem, dass diese modernen MärchenerzählerInnen allerdings haben, wenn sie in einer festen Beziehung leben und nicht das Singledasein geniessen können, ist, dass die Märchenstunde zuhause weitergehen muss. Da wird ein reales Treffen mit virtuellen FreundInnen/Bekannten als kurzfristiger wichtiger Amtstermin ausgegeben oder eben auch mal als wichtige Geschäftsreise. Wurde tatsächlich im realen Leben die virtuelle Bekanntschaft mal erwähnt (wenn auch nicht so, wie sie sich im Netz tatsächlich darstellt), dann ists eben ein wichtiger Kontakt, den man sich warmhalten muss um beruflich weiterzukommen. Aber es ist ja gaaaaar nichts dabei, alles nur rein praktisch gesehen.

Dumm nur, wenn die "Familie" von MärchenerzählerIn für dümmer und naiver gehalten wird, als sie tatsächlich ist. Denn irgendwann bringts die Sonne an den Tag. Das sind dann die Vor- und (für MärchenerzählerIn) Nachteile des wahren Lebens.

Auch wenn ich diese heutzutage überall anzutreffende "/innen"-Schreibweise nicht mag, ja sogar regelrecht affig finde, benutze ich sie hier mit voller Absicht selbst. Denn es soll nicht der Eindruck entstehen, ich würde mit der einen oder anderen Aussage nur Männer oder nur Frauen meinen, denn im Grunde gibt es von solchen Exemplaren auf beiden Seiten genügend Vorzeigeobjekte.

Stardust

Geistige Ver(w)irrungen

Aktuelle Beiträge

Fundstück
Im Zusammenhang mit meinen Beiträgen über moderne MärchenerzählerInnen...
Stardust2012 - 8. Feb, 11:21
Gemeinsamkeiten
Was haben Peer Steinbrück und die katholische Kirche...
Stardust2012 - 18. Jan, 10:00
Daseinsberechtigung?
Interessant, mit welcher Aussage sich der Herr Brüderle...
Stardust2012 - 18. Jan, 09:56
Danke, ARD!
Am gestrigen Abend strahlte die ARD zur besten Sendezeit...
Stardust2012 - 17. Jan, 12:07
Gefährlich gutgläubig
Man kann sich nur wundern über diejenigen, die die...
Stardust2012 - 16. Jan, 23:06

Kontakt

mail-an-dusty@gmx.net

Links

Archiv

Januar 2013
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Status

Online seit 4636 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 8. Feb, 11:23

Credits


Allgemeines
Freud und Leid
Freund und Feind
Gott und die Welt
Land und Leute
Liebe und andere Unannehmlichkeiten
Politik und Wirklichkeit
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren